KlangArten

logo

GRENZENLOSE KUNST

Zeitgenössische Musik im Spannungsfeld von Kommunikation und gesellschaftlicher Relevanz -
Zur Motivation des "Projektes Klang Arten"


Leitartikel Katalog KlangArten 1, März 1992


"Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist." Diese These Walter Benjamins, Anfang der dreißiger Jahre formuliert, scheint heute aktueller denn je zu sein. Auch wenn der darin vorausgesetzte Fortschrittsbegriff angesichts der katastrophenschwangeren Lage unserer Zivilisation inzwischen äußerst umstritten ist, so bleiben doch die Ausdrucksformen der Kunst auch am Ende des 20. Jahrhunderts stets Bereich des Neulands, des Entdeckens und so auch ein Weg zur Erneuerung und Selbstverwirklichung des Menschen. Gerade ihre Fremdheit und der hohe Grad an Verunsicherung, mit der sie das Publikum heute oft erfüllt, können dazu beitragen, erstarrte Gewohnheiten und reglementierte Lebensraster aufzubrechen und das Erleben des einzelnen - und damit das "Er-Leben" überhaupt - in neue, unerschlossene Bereiche zu führen. Eine solche Wirkung aber kann Kunst nur dann ausüben, wenn zwischen Künstler und Rezipient eine intakte Kommunikationsebene aufgebaut wird und "offenes Schaffen" auf "offenes Hören", "offenes Sehen" und "offenes Verstehen" trifft, wenn sich - in der Sprache der Psychologie formuliert - eine Botschaft zwischen Sender und Empfänger vermitteln läßt. Jede Kunst - und sei sie auch noch so hermetisch nach außen abgeschlossen - sucht in irgendeiner Form diesen Zustand der Kommunikation zu erreichen.

Die Kommunikation zwischen Komponist und Hörer

Das "Zueinander von Sender (schaffender Künstler) und Empfänger (Hörer)" scheint in vielen Bereichen der zeitgenössischen Kunst nachhaltig gestört zu sein. Namentlich in der neueren Musik trifft häufig eine schwer zu entziffernde Zeichensprache des Komponisten auf Hörer, die teils aufgrund von Vorurteilen und schlechten Erfahrungen, teils einfach aufgrund von Angst oder Überforderung eine bestimmte Erwartungshaltung gegenüber dieser Musik ausbilden, die mit der Sprachlichkeit, die der Komponist in seiner Musik entwickelt, keine Schnittpunkte mehr aufweist. Eine der wesentlichen Voraussetzungen für Verständigung, nämlich der "gemeinsame Zeichenvorrat für Sender und Empfänger" , ist damit nicht erfüllt. Kommunikation, ein "Zueinander" kann sich so nicht ereignen, es entsteht Fremdheit, Leere, vielleicht sogar Aggression zwischen den beiden Partnern.Wie wesentlich ein solches "Zueinander" aber ist, zeigt die einfache Überlegung, die sich die Konsequenzen dieser Kommunikationslosigkeit vor Augen hält: entweder würde der Komponist sich selbst als allein maßgebliche Instanz begreifen und der Hörer hätte sich seinem autoritären Willen unterzuordnen oder aber der Hörer würde zum Maß aller Dinge gemacht. Ersteres führt zu einem elitären Glasperlenspiel, das keinerlei gesellschaftliche Relevanz mehr beanspruchen kann, das zweite zu opportunistischer Anbiederung, die einer geglätteten Funktionalisierung der Musik gleichkommt. Zwischen Funktionslosigkeit und bloßer Funktionalisierung muß also in der Kunst eine Ebene gefunden werden, auf der sich das Verständlich-Machen mit einem offenen Verstehen verbinden kann, das "begriffsloses" und "erkennendes Verstehen" in sich vereinigt. Sender und Empfänger müssen dazu beide aus einer Voraussetzungslosigkeit - die in ihrer Konsequenz zu einem sich zuspitzenden Prozeß der Entfremdung führt - hinaustreten und mit dem Willen zum "Zueinander" sich entgegengehen.

Für den Komponisten heißt dies im wesentlichen eine musikalische Zeichensprache aufzubauen, die vom Hörer in irgendeiner Weise rezipiert werden kann. Dies bedeutet nichts anderes, als der Musik eine Form zu geben, die als "sinnliche Anschauung von Gestalten" für den prädisponierten und willigen Hörer unmittelbar einsichtig wird.

Diese Prädisposition des Hörers muß vor allem in dem Abbau einer bestimmten Erwartungshaltung, die auf Vorurteilen o. ä. beruhen kann, und der gleichzeitigen Ausbildung eines "Willens, wirklich zuzuhören" bestehen. Nur so kann es dem Hörer möglich werden, die Musik wahrhaft "mitzuerleben", sie in einem individuellen Prozeß der Imagination noch einmal neu in sich erstehen zu lassen. Derartiges "offenes Hören" verlangt nicht nur vom Musikliebhaber, sondern auch gerade vom geschulten Spezialisten einiges: ästhetische Kriterien, die üblicherweise das sinnlich Wahrgenommene beurteilen, müssen im Moment des Hörens zumindest teilweise außer Kraft gesetzt werden. Der an Beethoven und Brahms geschulte Hörer wird es schwer haben, eine Musik zu akzeptieren, die keine Bindung an ein tonales Zentrum, keine Wiederholungen, keine klar nachvollziehbaren Entwicklungen, keine scharfen Kontraste und keine einprägsame Rhythmik und Melodik mehr kennt, wie es in der Musik seit 1945 häufig der Fall ist, ja er muß ihr geradezu verständnislos gegenüberstehen. Diese Verständnislosigkeit hat ihren Grund allein in der Unvereinbarkeit eines "nicht-adäquaten Hörens" , das die Musik Beethovens als ästhetischen Maßstab nimmt, mit der tatsächlich erklingenden Musiksprache, die unter Umständen nach völlig anderen künstlerischen Kriterien entstanden ist. "Offenes Hören" muß also auch immer "adäquates Hören" bedeuten, Hören ohne Erwartungen, Hören ohne festgesetzte Standpunkte. Ein Rest an Voreingenommenheit freilich wird nie ausgeschaltet werden können, mit diesem muß der Komponist rechnen. Er muß versuchen, dem Hörer durch seine Musik die Möglichkeit zu geben, sich selbst in ihr wiederzufinden.


Neue Musik als Anachronismus

Musik, die auf ihrer Eigenständigkeit als Kunstform besteht, hat in einer an kommerziellen Interessen und wirtschaftlicher Rentabilität orientierten Zeit keinen leichten Stand. Wo sie auch nur teilweise kommerziell verwertbar ist, folgt sie kritiklos einem modischen Massengeschmack oder wird zum repräsentativen Aushängeschild und schicken Ornament der Industrie, die mit Kunstförderung ihr angeschlagenes Bild in der Öffentlichkeit reparieren will. Wo Musik sich aber - resigniert - auf sich selbst zurückzieht, gerät sie in eklatanten Widerspruch zu den - ebenfalls kommerziell orientierten - Erfordernissen des Kulturbetriebs und verliert so jegliche gesellschaftliche Bedeutung, da sie nur noch als Randerscheinung existieren kann. Dabei gehen die Entwicklung der Kunst und der Massengeschmack eine komplexe Wechselbeziehung ein. "Je mehr nämlich die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich vermindert, desto mehr fallen...die kritische und die genießende Haltung des Publikums auseinander. Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Widerwillen." Andererseits aber ist diese gesellschaftliche Bedeutung wieder von eben diesem Massengeschmack abhängig, der sich an ihr bildet.
So ist zeitgenössische Musik heute in mehrfacher Hinsicht anachronistisch. Den "Anspruch des Kunstwerks auf die Masse" kann sie in keiner Weise erfüllen, wird dadurch kommerziell unattraktiv und erhält so eine stark reduzierte öffentliche Präsenz und Resonanz. Dadurch wiederum bleibt sie für die Öffentlichkeit gesichts- und geschichtslos und wirkt so nur unwesentlich und dann meist als abschreckendes Negativum auf den Geschmack der Zeit - ein endloser Zirkel.
So gerät die Musik (und der Komponist) immer mehr unter einen gewissen Rechtfertigungszwang, noch mehr als Literatur und bildende Kunst, wo die visuelle Rezeption die Aufnahme bei einem breiteren Publikum erleichtert. Man fragt nach ihrer Funktion, ihrer Bedeutung, ihrer Daseinsberechtigung: was will sie uns sagen, wozu artikuliert sie sich?

Auf diese Fragen kann es wohl nur zwei mögliche Antworten geben. Entweder der Komponist beruft sich auf seine Musik als Kunstform außerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge; sie sei durch sich selbst da und bedürfe keinerlei zweckorientierter Rechtfertigung nach außen. Ihre Funktion, ihre Bedeutung liege allein in ihr selbst und ihre Daseinsberechtigung habe sie im Moment ihres Erklingens bereits erfüllt. Oder aber die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Musik fließt in das Werk des Komponisten ein (ein Prozeß, der sich allerdings bei jeder Art von Musik, oft unbewußt, einstellt) oder wird darüberhinaus ausdrücklich in diesem thematisiert. Dies muß nicht zu einer eindeutig politisch orientierten Musik führen; schon die bewußte Wendung des Komponisten an ein Gegenüber, die Bereitschaft zum Dialog mit dem Hörer ist ein Vorgang von gesellschaftlicher Tragweite.

Dieser Dualismus, der sich in den Begriffen des "L'art pour l'art" und der "Musique engagée" zuspitzt, hat in der Musik des 20. Jahrhunderts eine neue Dimension erhalten. Auch vorher bewegte sich Musik zwar immer irgendwo zwischen diesen Extremen, immer aber war sie Bestandteil eines festen gesellschaftlichen Beziehungsgefüges und ihre Motivation war stets hinreichend - wenn auch auf sehr unterschiedliche Art (man denke etwa an die Spaltung in "Kunst-" und "Gebrauchsmusik") - gegeben. Sie besaß eine klar abgegrenzte Funktion im Alltagsleben und bewahrte dennoch ihre künstlerische Identität. Heute scheint beides aufgelöst: die Funktion muß erst vom Komponisten in langen Argumentationsketten "nachgewiesen" werden und der künstlerischen Identität steht man mit abwägender Skepsis gegenüber.

Zeitgenössische Musik bleibt also ein Anachronismus, aber genau hierin findet sie ihre Legitimation. Mehr als jemals ist vielleicht heute Kunst ein Spiegel ihrer Zeit, von der Zeit geprägt und gleichzeitig diese prägend. Der "Zerfall der Werte" seit Beginn unseres Jahrhunderts, wie ihn Hermann Broch beschrieb, findet in der Zerrissenheit und Vielfältigkeit der Kunst heute seinen gemäßen - sublimierten - Ausdruck. Die Legitimationsmängel der Neuen Musik sind kein isoliertes Problem der Kunsttheorie, sondern betreffen die Legitimation unseres Lebens, unserer Kultur als Ganzes: einer Kultur, der "kein 'Geschichtsbild' mehr zur Verfügung steht, das es der Gegenwart erlaubt, sich zu datieren."

Adäquate Präsentationsformen

Die Präsentation neuerer Musik ist die Plattform, auf der die beiden Problemfelder der musikalischen Kommunikation und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung ineinandergreifen. Sie ist ihrerseits wieder ein gesellschaftliches Phänomen, das sich in der Etablierung von Konzert und Oper kristallisierte, die mittlerweile eine gut 400-jährige Geschichte aufweisen können. Daß der "Anspruch des Kunstwerkes auf die Masse" mit der Entwicklung des Konzertwesens zusammenfällt, wird klar, wenn man sich an die streng festgelegten Herrschaftsstrukturen des 17. und 18. Jahrhunderts erinnert, in der die weltliche "Kunstmusik" einem auserwählten Kreis der Aristokratie vorbehalten war. Allein in der geistlichen Musik, besonders derjenigen protestantischer Ausprägung, setzte sich eine "simultane Kollektivrezeption" durch die Gemeinde durch. Im 19. Jahrhundert dann gelangte das Konzertwesen, bedingt durch die Herausbildung des Bürgertums, den gleichzeitigen Verfall der Kirchenmusik nach der Säkularisierung und deren Transformierung in den Konzertrahmen, zu einer Blüte, die der gleichzeitig prosperierenden Oper in nichts nachstand. Neben den soziologischen Gründen für diese Entwicklung, wie der Ausbildung der Schicht des Bildungsbürgertums, waren gewiß auch eher psychologische Veränderungen in der Einstellung zur Musik dafür verantwortlich: das Hören in der Masse war eben ein ganz anderes Hören als dasjenige im intimen Kreis einer "Musica reservata"; "die Reaktionen des einzelnen, deren Summe die massive Reaktionen des Publikums ausmacht" erweisen sich als "von vornherein durch ihre unmittelbar bevortstehende Massierung bedingt."

Heute ist diese Präsentationsform lange schon eine von routinierter Geschäftigkeit erhaltene Konvention, auf die allein schon deshalb nicht verzichtet werden kann, weil das in ihr aufscheinende Repertoire genau die Zeit umfaßt, in der sich das Konzert als adäquate Darbietungsform von Musik durchsetzte. Daß sich auch die Musik des 20. Jahrhunderts großenteils im Konzertsaal herausgebildet hat und deswegen ebenso wie die ältere an diesen gebunden erscheint, steht außer Zweifel.

Die Musik aber begann in dem Maße aus diesem Rahmen hinauszudrängen, in dem sie aus sich selbst hinauswuchs. 1901 bereits forderte Claude Debussy eine "Musik im Freien", um dort "die Musik zu neuem Leben erwachen" zu lassen. In dieser Idee sah er "einen Traum für künftige Generationen beschlossen". Das gleiche Durchbrechen starrer ästhetischer Normierungen, das Debussy als Antriebskraft für seine kompositorische Arbeit stets brauchte, überträgt er hier - wenn auch in eher utopischer Form - auf deren öffentliche Realisierung. Hier soll nun kein geschichtlicher Abriß alternativer Darbietungsformen von Musik versucht werden; zu zahlreich waren die Initiativen, die in dieser Richtung wirkten und eine derartige Zusammenfassung müßte in diesem Rahmen unvollständig bleiben. Tatsache ist jedoch, daß diese Bemühungen, die in den Simultan- und Wandelkonzerten und den Happenings der Fluxus-Bewegung der sechziger Jahre kulminierten, das traditionelle Konzert auch für die heute komponierte Musik nicht ersetzen konnten. Ob in den von der "Gemeinde" der Neue-Musik-Hörer besuchten "Metropolen" Darmstadt und Donaueschingen, ob in den großen internationalen Festivals in Warschau, Prag, Metz oder Wien: stets blieb das Konzert die Norm der musikalischen Auführungspraxis, die lediglich von Zeit zu Zeit mit experimentellen Präsentationsformen "gewürzt" wurden.

Diese Zähigkeit der Konvention "Konzert" im Bereich der zeitgenössischen Musik mag angesichts der expansiven Entwicklungen in der jüngeren Kunstproduktion leicht erstaunen. Musik weist zwar heute immer weiter über sich selbst hinaus und betritt fortwährend den Freiraum zu anderen Künsten, bleibt aber gleichzeitig dem immergleichen Ritus des Konzerts verhaftet. Unbestreitbar macht allein die Langlebigkeit dieser Institution ihre Berechtigung deutlich. Sie bietet Komponisten und Interpreten ein breites öffentliches Forum, ermöglich dem Hörer - im Idealfall - durch einen faßbaren Rahmen eine klare Orientierung und durch ein meist hohes interpretatorisches Niveau eine sachgerechte Urteilsbildung.
Daß diese Inhalte allerdings eher idealisierende Theorie als umgesetzte Praxis sind, wird bei einem Besuch von Konzerten mit Neuer Musik überdeutlich. Der Rahmen - untrennbar mit der Musik zwischen Mozart und Strauß verknüpft - schürt im Hörer eben genau die Erwartungen, die ihm ein "offenes Hören" neuer Klänge verstellen. Alles, was diese Musik an Fremdheit, Verstörung, Verunsicherung beinhaltet, potenziert sich in einer Weise, die diese Inhalte nicht mehr als Qualitäten, sondern als Anzeichen einer mangelhaften Sprachfähigkeit des Komponisten erscheinen lassen. Der Hörer meint etwas mißzuverstehen oder er fühlt sich selbst mißverstanden; er kann sich so in der Musik nicht wiederfinden, geschweige denn sie in einem "Imaginationsprozeß" noch einmal in sich erstehen lassen.

So wenig die Vorzüge der traditionellen Konzertform geleugnet werden können, so offen liegen also auch ihre Nachteile vor uns: sie erschwert die Kommunikation zwischen Komponist und Hörer durch einen streng ritualisierten, wenig flexiblen Ablauf, der auf der räumlichen Trennung Bühne - Publikum basiert. Sie macht so ein "offenes Hören", Voraussetzung für ein Verständnis von Musik, kaum möglich und unterstützt Erwartungshaltungen und Vorurteilsbildung im Hörer. Bestimmte Inhalte der Musik unserer Zeit können so nicht als Qualität erkannt werden, sondern rufen nur verständnisloses Kopfschütteln hervor. Pointiert formuliert stellt sich die Konzertsituation folgendermaßen dar: "Konzert. Publikum hört zu. Spezialisten machen Musik. Publikumsgeräusche stören. Die musikalische Kommunikation fließt in einer Richtung. Man darf sich bei den Musikern durch Beifall bedanken."

Das entgegengesetzte Extrem freilich, das auch die von John Cage proklamierte Aufhebung des Werkbegriffs miteinschließt, scheint aus heutiger Sicht kaum weniger problematisch: "Kollektive Improvisationen. Aufhebung des Unterschieds zwischen Musiker und Publikum. Musikalische Kommunikation könnte frei und direkt zwischen den Teilnehmern fließen. Erfolg hängt von der spontanen Kreativität und Soziabilität der Spieler ab." So wichtig diese Modelle zu ihrer Zeit waren, so deutlich müssen sie doch heute in Frage gestellt werden. Weder der Unterschied zwischen Interpreten und Publikum noch derjenige zwischen Komponisten und Publikum ließ sich jemals ganz aus der Welt schaffen. Dies erscheint auch ganz natürlich, ruft man sich das elementare Kommunikationsmodell Sender - Botschaft - Empfänger wieder ins Gedächtnis: selbst wenn der Komponist dem Interpreten alle Freiheiten läßt, so ist doch bereits diese Aufforderung zur Improvisation ein originär kreativer Akt. Und auch das Publikum kann nur miteinbezogen werden, wenn es weiß, was es zu tun hat und dies wiederum erfordert eine Anleitung seitens des Interpreten oder des Komponisten: Kommunikation hat sich bereits vollzogen, die Trennung Komponist-Interpret-Hörer ist bereits erfolgt. Dieses Kommunikationsmodell ist ja letzlich auch nichts anderes als Ursprung und Bedeutungszentrum von Musik überhaupt; es kann ihr deshalb nicht genommen werden.

Klang Arten

Zwischen diesen Extremen muß sich also ein Projekt bewegen, das der Präsentation zeitgenössischer Musik neue Impulse verleihen will. Natürlich ist es dabei mit einer Abschaffung oder Abänderung der rein formalen Aspekte der musikalischen Aufführungspraxis nicht getan. Die Betonung der äußeren Form der Aufführung kann allzuleicht über inhaltliche Schwachpunkte hinwegtäuschen. Deshalb bleibt es in erster Linie immer dem Dreigespann Hörer-Interpret-Komponist überlassen, Musik zum Erlebnis zu machen. Die Präsentationsform kann immer nur Hilfe dazu sein, ein Wink, ein Fingerzeig, ein kurzer Anstoß in die richtige Richtung.

Das "Projekt KlangArten " will mit seinen Aktivitäten solche Anstöße geben. Neben die rein formalen Aspekte, die die Verlagerung der Spielorte außerhalb des Konzertbetriebs, die räumliche Anordnung von Musikern und Publikum sowie Gestaltung und Ablauf des Programmes umfassen und ein offeneres Hören ermöglichen sollen, treten direkte Vermittlungsaktionen, die dazu beitragen können, ein "erkennendes Verstehen" der vorgestellten Musik zu entwickeln: ausführliche und anschauliche Dokumentation der Veranstaltungen in einer Katalogreihe, informelle Gespräche zwischen Komponisten, Interpreten und Zuhörern sowie die Einbeziehung historischer und interdisziplinärer Ebenen in den Verlauf der Abende, die die heutige Musik in einem geschichtlichen und intermedialen Umfeld zeigen. Darüber hinaus wurde in den letzten Projekten auch immer mehr versucht, Veranstaltungsvorbereitung und Probenarbeit auf eine neue Basis zu stellen: die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Künstlern in Work-in-Progress-Situationen soll neue Formen der Interaktion ermöglichen und einer ästhetischen und inhaltlichen Fixierung entgegenwirken. Heterogenes kann so gleichberechtigt nebeneinander stehen und so der grundsätzlich pluralistischen Situation der heutigen Kunst gerecht werden.

Daß ein derartiges Konzept auch zahlreiche Risiken birgt, liegt auf der Hand. So kann die pädagogische Absicht, die ja in jeder Art von Kunst-Präsentation in irgendeiner Weise enthalten ist, derart überhandnehmen, daß sie zu einer autoritären Bevormundung des Hörers führt, ebenso wie eine Annäherung, eine Offenheit zwischen Komponist und Hörer leicht zur Anbiederung, zum gequälten Bitten um Verstandenwerden auswachsen kann, ganz zu schweigen von der bereits oben angedeuteten Gefahr, durch die Auswahl eines ansprechenden, neugierig machenden Rahmens Schwächen im Niveau von Komposition und/oder Interpretation zu überdecken. Auch kann so die Autonomie der Musik überhaupt empfindlich gestört werden. Schließlich ist es schwieriger, heterogene Programme in einer stimmigen und eine klare Orientierung ermöglichenden Faßlichkeit zu präsentieren als einen Katalog von neuen Werken einfach vor dem Hörer aufzuschlagen und ihn darin "lesen" zu lassen, wie es bei den Festivals mit Neuer Musik die Regel ist.

Die Veranstaltungen des Projektes bewegen sich stets inmitten dieser Risiken. Unzufrieden mit der erstarrten Form des Konzerts, sucht es nach alternativen Artikulationsformen für heutige Musik und heutige Kunst überhaupt. Es beansprucht nicht, revolutionärer Ersatz für das Konzert zu sein, auch hält es sich grundsätzlich an das - auch im Konzert vorausgesetzte - Kommunikationsmodell Hörer-Komponist-Interpret, versucht aber dieses mit neuen Inhalten und neuen Verbindungssträngen zu bereichern. Es will den grenzenlosen, weil grenzüberschreitenden Tendenzen der jüngsten Kunstproduktion gerecht werden und dieser ein adäquates öffentliches Forum schaffen, das nicht mehr die Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit von Kunst in einem genormten Rahmen einebnet. Die Ermöglichung eines "offenes Hörens" soll Angst und Vorurteile gegenüber Fremdem, Unbekanntem abbauen und nicht nur dem Laien, sondern auch dem Musikfachmann neue Aspekte des Verstehens von neuerer Musik erschließen, stets im Bewußtsein um die Begrenztheit dieser Vorhaben, denn "in Wahrheit läßt sich die Liebe zur Kunst nicht dadurch erwerben, daß man die Kunst erklärt."

In der Initiative der KlangArten sehen wir einen wichtigen Beitrag zu einem geänderten Kunstbewußtsein in der Öffentlichkeit. Kunst und ihre öffentliche Realisierung müssen immer flexibel - grenzenlos - bleiben und dürfen sich niemals auf dem bequemen Sessel verblichener Konventionen ausruhen. Nur wenn Kunst, und damit Musik, sich mitten im Leben bewegt und unabhängig von modischen Strömungen auf die Forderungen ihrer Zeit reagiert, kann sie Verständnis für ihre Inhalte erwarten. Ein wie immer geartetes Verständnis aber wird stets die Voraussetzung dafür bleiben, in der Kunst einen Sinn erkennen und sie - letztlich - lieben zu können.

Christian Utz, März 1992



Künstler Raum Produktionen