Wolfram Schurig

logo



Martin Skamletz

la fine è/ed il fine

("All diesen Pseudoerfordernissen nach bestem Vermögen nicht gerecht zu werden..."*)

Wolfram Schurig und sein Werk "Für immer"


I.

Wolfram Schurigs "Für immer" aus den Jahren 1987/88 ist eigentlich für acht Sänger (doppeltes Vokalquartett) und Viola geschrieben und besteht im ganzen aus sechs Sätzen; heute abend gespielt werden davon allerdings nur der erste und der letzte Satz für Viola sola (zugleich Sprecher) beziehungsweise Alt und Viola.

Diese Uraufführung ist somit nicht einmal eine halbe, und es handelt sich dabei einerseits um einen vorwiegend ökonomisch bedingten Kompromiß aus Gründen der großen Schwierigkeiten einer Aufführung des ganzen Werks; andererseits aber ermöglicht diese Präsentation des bloßen Gerüsts eines Werkes auch das verstärkte Herausarbeiten von gewissen Grundanliegen des Komponisten.

Durch das ganze Werk zieht sich eine Entwicklung in mehrerer Hinsicht; wenn nun wie in diesem Falle nur ihr Beginn und Schluß erklingen, die Mitte und damit die Entwicklung selbst aber fehlt, so wird zumindest ihr Resultat besonders deutlich, und auch das kann unter gewissen Umständen eine interessante Perspektive sein. Man muß hierfür nur ein angemessenes Verständnis von "Beginn" und "Schluß" bzw. Anfang und Ende haben.

Nämlich "ganz ist, was Anfang, Mitte und Ende besitzt", wie Aristoteles sagt (1450 b 26f.); und auch wenn es hier keine Mitte gibt: in gewisser Weise ist doch stets das Ganze gegenwärtig. Ein Anfang (indem er nämlich dieses Ganze eröffnet und keimhaft in sich trägt) ist ja mehr als bloßer Beginn (der nur den ersten Schritt setzt). Desgleichen ist ein Ende weiter als der Schluß: In seiner mitklingenden Doppelbedeutung von "Zweck" schließt auch das Ende das ganze vergangene Stück in sich und ist etwas ganz anderes als das bloße Aufhören (Schluß).

Eine dermaßen fragmentarische Aufführung ist also eine Herausforderung für den Hörer, einmal seine Vorstellungs- bzw. Einbildungskraft anzustrengen und aus den Andeutungen in Anfang und Ende die Form eines Ganzen zu erahnen; die folgenden Bemerkungen wollen bei dieser Arbeit helfen.

II.

Überhaupt beschäftigt sich der Komponist sehr intensiv mit dem Verhältnis seiner Musik zu ihrem Aufgenommenwerden durch den Hörer, und dies nicht erst nachträglich: er bezieht diesbezügliche Überlegungen schon in den Kompositionsvorgang selbst ein.

Von zentraler Bedeutung ist dabei seine Auseinandersetzung mit dem Begriff der musikalischen Expressivität. Er tritt an, "um aufzuräumen mit der hartnäckig verankerten Überzeugung,

musikalischer Ausdruck habe zu tun mit der Vermittlung von Emotion, gleich so, als verhielte sich Klang wie ein akustischer Postbote und als wäre Emotionales überhaupt klanglich vermittelbar"*.

Grundsätzlich will er die Ausdruckskraft des reinen Klanges von dem, was Musik möglicherweise vermitteln mag, strikt getrennt wissen und sieht sie als davon unabhängig. Eine Deckung ist dabei nur bedingt möglich und für ihn auch gar nicht unbedingt anzustreben.

"Wenn Klang überhaupt vermittelt, dann nur durch seine historische Besetztheit und unter der Voraussetzung eines gemeinsamen Gedächtnisses von Hörer und Gehörtem. Wahrnehmung bleibt so aber reduziert auf eine Funktion der Erinnerung, sie bleibt immer kontextuell gebunden, [wie auch immer] diese Bindung sich darstellt (emotionell, intellektuell, metaphorisch...)"*.

Um dem Klang die ihm eigene Expressivität möglichst unverstellt zu ermöglichen, faßt Schurig das Moment der Irritation positiv.

"Je weiter Klang sich von der Basis dieses gemeinsamen Gedächtnisses mit dem Hörer entfernt, umso größer ist die Chance, in diesem nicht bloß als assoziativer Automatismus zu funktionieren, sondern tatsächlich (zumindest partiell) als unvermittelter Ausdruck der eigenen klanglich-physischen Identität zu wirken; - mehr vermag Klang von sich aus nicht. Oder, anders ausgedrückt: ein Ton ist [nicht mehr als] ein Ton, und [eine darüber hinausgehende] Bedeutung [erlangt er] nur durch den und mit dem, der ihn hört"*.

Was genau dann der Hörer in seiner Musik hört (wenn es überhaupt immer ein konkreter "Inhalt" sein muß), ist für den Komponisten nicht im Détail vorherzubestimmen; daran hätte er auch gar kein Interesse. Beschäftigung mit musikalischem Ausdruck geschieht bei Schurig nicht auf dieser quasi "hörpolitischen"** Ebene des Spekulierens auf die Reaktion des Hörers, sondern im schlichten Sich-Einlassen auf das, was der nackte Klang von selbst sagen mag (der ja "bloß darauf wartet, zu seinem Recht zu kommen"*).

"All das legt nahe, daß musikalische Expressivität keine musiksprachliche Erscheinung ist und daher auch nicht durch stupide Perpetuierung vergangenen stilistischen Vokabulars zu erreichen ist, sondern daß es sich dabei um einen grundsätzlichen phänomenologischen Aspekt von Klang überhaupt handelt. [...] Wenn ich überhaupt eine Klassifizierung für meine kompositorische Haltung zulassen möchte, dann die eines kritischen Klangpositivismus. Damit meine ich, daß mich nicht im entferntesten interessiert, was mit irgendeiner Form von klingender Materie gemeint sein könnte, sondern Musik zu schaffen, die nicht durch implizierte Bedeutungen die Identität des Klingenden zerstört. Konkret heißt das, nicht erst Konzepte zu entwickeln und danach die Materialfrage zu stellen, sondern vielmehr von bestimmten klanglichen Situationen auszugehen und dann jene Strategien ausfindig zu machen, die für deren Zustandekommen verantwortlich sind"*.

Und auch in diesem Kompositionsvorgang selbst ist Schurig offen für die Eigenheiten des Materials; er konfrontiert nicht nur den Hörer mit Konflikten, die dessen Wahrnehmung schärfen sollen, sondern sieht und akzeptiert auch seine eigene Situation beim Schreiben in einem analogen Spannungsfeld, indem er versucht, dabei auftretende Konflikte und scheinbare Unverträglichkeiten nicht auszumerzen, sondern in dem Sinne fruchtbar zu machen, daß sie ihn folgerichtig in Ausdrucksbereiche führen, wo er sonst (ohne sie) nicht hingekommen wäre.

Er will "den Kompositionsvorgang selbst als expressiven Prozeß [...] verstehen" unter der Voraussetzung, "daß Expressivität stets mit Unbekanntem, wenigstens aber mit Unerwartetem zu tun habe bzw. mit der Irritation, die aus deren Konfrontation mit der Erinnerung und dem Assoziationspotential des wahrnehmenden Individuums entsteht"*.

Auch hier ist ihm Irritation "das Schlüsselwort [...], dem man als einem prinzipiellen Wahrnehmungsphänomen nicht nur beim Zuhören, sondern gleichwohl beim Komponieren begegnet, etwa dort, wo sich musikalisches Material der vorgesehenen Konzeption widersetzt. In einem solchen Fall beide Seiten so lange zu modifizieren, bis sie sich bequem zusammenfügen lassen, scheint nicht immer unbedingt die adäquate Lösung zu sein - es sei denn, man betrachtet das

Entstehen einer derartigen Situation prinzipiell als konzeptuellen Schwachpunkt. Vielmehr dürfte zutreffen, daß eine partielle Inkongruenz von Material und Kompositionsmodus weiteres Konfliktpotential mobilisieren kann, das noch im Stadium der Ausführung, sofern diese nicht im Sinne hat, solche Ecken auszubügeln, durch gesteigerten expressiven Impetus wahrnehmbar bleibt.

Ähnliche Reibungsmomente finden sich vom Stadium der Konzeption von Klang bis zu dessen Wahrnehmung, so etwa die Absorption des kompositorischen Konzepts im Kompositionsvorgang, will sagen das Untertauchen diskursiver Energien im Strudel ihrer Materialisierung, die Auslöschung des Geschriebenen im Augenblick der Klangwerdung, schließlich die Aufhebung jeder objektiven Bedeutsamkeit von Klang durch dessen apperzeptive Individuation"*.

III.

"Für immer" ist ein Gesangsstück, und "sein musikalisches Material ist nicht von dem ihm zugrundeliegenden Textmaterial zu trennen"**. Das zentrale Moment der musikalischen Ausarbeitung ist "das, was mit dem Text passiert"**: Der Text wird gewissen Bearbeitungsverfahren unterzogen, die die Art und Weise verändern, wie er in der Musik anwesend ist, und das wiederum gestaltet die Musik; keine nachvollziehende Vertonung also, sondern "Wortmaterial gleich Klangmaterial"**.

Auf den ersten Blick sieht diese Bearbeitung des Textes wie eine Zerstörung aus. Ein in seinem Verlauf unangetastetes ganzes Gedicht als Grundlage gibt es nur im ersten Satz (vom Bratschisten zum eigenen Spiel gesprochen); die starke artikulatorische Differenzierung des Sprechtextes weist aber auch hier schon darauf voraus, was in der Folge mit den jeweiligen Texten geschehen wird.

Im zweiten Satz treten die vier Frauenstimmen zur Viola und singen gleichzeitig je eine Strophe des zugrundeliegenden Gedichts; das insistierend wiederholende Hervorheben von einzelnen Lauten läßt schon weitere Schritte ahnen.

Das Gedicht des dritten Satzes wird in seine einzelnen Verse zerlegt: Erstmals treten alle acht Stimmen auf (während die Viola schweigt) und singen zugleich jede für sich einen Vers; im zweiten Teil wird der Vers gewechselt (die Stimmen sind einander paarweise zugeordnet und tauschen den Text), und auch so erklingt das ganze Gedicht in seinen Versen gleichzeitig.

Der vierte und der fünfte Satz (wieder mit Viola) gehen je noch einen Schritt weiter: Erst werden die Verse in ihre Silben aufgespalten und wandern in dieser Gestalt durch die Stimmen, dann auch noch die Silben selbst in die Laute, aus denen sie zusammengesetzt sind: Der fünfte Satz (Anweisung für die hohen Stimmen: "... in schmerzlicher Entfernung von jeglichem Ausdruck...") bringt zwei getrennte Schichten von vokalisch betontem Gesungenem einerseits und primär konsonantisch Gesprochenem andererseits (hohe vs. tiefe Stimmen); diese Trennung beruht auf der Teilung schon des zugrundeliegenden Gedichts in prima und altra voce (mit zwei in sich geschlossenen Texten).

Im sechsten und letzten Satz schließlich ist nicht einmal mehr ein vollständiges Gedicht Grundlage, sondern bloß Fragmente eines solchen; und wie sich der Text auflöst, so zerfällt auch der musikalische Verlauf in einzelne Momente, die durch lange Fermatenpausen getrennt sind und keine einheitliche Linie mehr bilden.

IV.

In einer dermaßen stark vom Text abgeleiteten musikalischen Konzeption ist vielleicht die Rolle der Viola von Interesse: Ihr fällt die Aufgabe zu, zwischen den sich in den Vokalpartien immer mehr auseinanderbewegenden konsonantischen und vokalischen Klangaspekten zu vermitteln, ist es auf ihr als einem Streichinstrument doch möglich, Klänge hervorzubringen, die denen der menschlichen Stimme angenähert sind: gleichsam vokal-"vokalische" einerseits und geräuschhaft artikuliert "konsonantische" ("von abgewürgter Klanglichkeit"**) andererseits.

Diese Vermittlerfunktion der Viola entwickelt sich im Laufe des Stücks, und desto stärker, je mehr die Singstimmenbehandlung in sich aufgespalten wird: Im ersten und letzten Stück ist davon also gerade am wenigsten zu bemerken.

Der erste Satz nämlich - von der Viola allein ausgeführt - entspricht in seiner noch intakten (unangetasteten) musikalischen Textur dem fast ungebrochen linear dazugesprochenen Text; natürlich ist auch hier alles später als "vokalisch/konsonantisch" Umdeutbare schon angelegt, wird sich aber erst in seiner aktuellen Vermittlerfunktion als solches erweisen (noch gibt es das diese Vermittlung notwendigmachende Auseinanderklaffen nicht).

Im letzten Satz dagegen gibt es diesen Unterschied nicht mehr: Die Vermittlung ist aufgegangen in gegenseitiger Integration, Singstimme und Viola werden in gleicher Weise "instrumental" und "vokal" behandelt, auch in rhythmischer Hinsicht verschmelzen die beiden - nur noch als "Klangerzeuger" verstanden - gleichsam zu einem einzigen Instrument, und synchron verschwinden sie "al nulla" mit den kaum mehr spezifisch unterscheidbaren "Vortragsbezeichnungen": "Stimmanteil nimmt bis zum Schluß ab, schließlich nur noch Atem" (Alt); "immer mehr Geräusch, immer weniger Ton" (Viola).

V.

Diese beiden bei ganz ähnlicher Besetzung und Klanglichkeit (Viola/ Sprecher vs. Sängerin & Viola) doch so extrem verschiedenen Konzeptionen von "Musik" in erstem und letztem Satz sind es, die bei einer Aufführung von nur diesen beiden Teilen deutlich werden können, wenn sie einander

ohne Vermittlung durch die dazwischen liegende Entwicklung unmittelbar gegenübergestellt werden.

An einer solchen Gegenüberstellung läßt sich die eingangs skizzierte kompositorische Haltung Wolfram Schurigs an einem konkreten Beispiel darstellen.

Der erste Satz nämlich beruht auf genau dem, was er als das "gemeinsame Gedächtnis von Hörer und Gehörtem" bezeichnet: Er ist "expressiv" nicht im Sinne von Schurigs "klanglich-phänomenologischer" Auffassung von Expressivität, sondern eher durch eine "der Musik aufgestülpte rhetorische Idee"**. Das Stück hat eine eindeutige Richtung, es will etwas "aussagen" und ist als ein zusammenhängender Ablauf konzipert (im Gegensatz zum fragmentarischen letzten Satz), und es "bezieht sich auf ein gewisses gemeinsames Vokabular von Gesten, die zu jeder Zeit verständlich sind als expressive Momente, die etwas Bestimmtes auszudrücken vermögen"**. ("Zu jeder Zeit" bedeutet auch: "Vom verwendeten Gestenmaterial her hätte das auch Monteverdi schreiben können"**.)

All das macht nach Schurigs Vorstellung das erste Stück unmittelbar verständlich im Sinne eines vorausgesetzten Begriffs von musikalischem Ausdruck, den er aber (in der eingangs dargestellten Weise) nicht für den letzten und eigentlich anzustrebenden hält. Würde er dabei stehenbleiben und in der selben Art auch die anderen Sätze des Werkes bestreiten, wäre das in seinem Verständnis nicht mehr als ein "Gesten- und Manierismensalat"**, der zwar scheinbar eingängig ist, aber im Grunde nicht wirklich etwas aussagt, sondern eher sogar das verdeckt, was die Musik ganz allein (oder - weil "auch 'Musik' schon etwas Eingeordnetes ist"** - der bloße Klang) ohne aufgesetzten Affekt zu sagen imstande wäre.

Um dieser "Expressivität als phänomenologischem Aspekt von Klang"** nachzugehen, muß er zunächst die alten Vorstellungen und Ordnungen einfach verlassen, und das Resultat davon - wie es sich im sechsten und letzten Satz darstellt - ist: "Die vorausgesetzte Sprachlichkeit der 'Musik' ist aufgelöst"; "eigentlich ist das gar keine 'Musik' in diesem Sinne mehr"; "nichts Erzählendes/ Diskursives/ Dramaturgisches"; "nur scheinbare Richtungen (ohne Konsequenzen)"; "aneinandergereihte Bruchstücke, möglicherweise auch sie noch mit Assoziationspotential, aber nicht in einen Kontext eingeordnet, durch ihr Nur-Dastehen zu bloßen Objekten werdend"**.

Nur im ersten Moment und in diesen rein negativen Formulierungen kann einem all dies als eine Art plumper "Anti-Musik" vorkommen. Man muß aber auch sehen, worum es Schurig in solchen Vorgangs- und Ausdrucksweisen positiv geht. (Adorno würde bei einer solchen Gelegenheit den "unverdächtigen Gottfried Keller" bemühen: "Denn man reißt nicht stets nieder, um wieder aufzubauen; im Gegenteil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um freien Raum für Licht und Luft zu gewinnen, welche überall sich von selbst einfinden, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist. Wenn man den Dingen ins Gesicht schaut und sie mit Aufrichtigkeit behandelt, so ist nichts negativ, sondern alles ist positiv, um diesen Pfefferkuchenausdruck zu gebrauchen".)

Die "in Text und Musik analog abgehandelten Zerfallserscheinungen", "die Auflösung der Sprachlichkeit der Musik"** (oder dessen, was man vorschnell dafür gehalten hatte) ermöglichen nämlich zugleich die Befreiung des Klangs: "Der Klang wird fragmentarisiert und in Einzelbestandteile aufgelöst"**, und erst dadurch wird er selbst greifbar, ohne vorausgesetzte Konzepte, was er zu bedeuten habe; "Klang als Körper und Elementarereignis"**.

Die der ganzen Komposition zugrundeliegende Ordnung des in ihr verwendeten Texts wird ja auch nur scheinbar zerstört: Sie bleibt in Wirklichkeit stets aufrecht und wird nur deligiert, d. h. in immer kleineren Einheiten aufgefaßt. "Die Ordnung im als Lautmaterial verstandenen Text wird bestimmten musikalischen Ordnungen zugewiesen, die sich immer mehr separieren. Das Lautmaterial als Klangträger verselbständigt sich zunehmend"**.

VI.

Der Titel "Für immer" ist eine Übersetzung des italienischen "Per sempre" und damit der Überschrift eines mit "Roma, il 24 maggio 1959" datierten Gedichtes von Giuseppe Ungaretti. Jeder Satz von Wolfram Schurigs Werk beschäftigt sich mit einem Ungaretti-Gedicht: Soldati (I.), Tutto ho perduto (II.), Non gridate piú (III.), Se tu mio fratello (IV.), Canto a due voci (V.), Per sempre (VI.).

Si sta come
d'autunno
sugli alberi
le foglie>

Dies ist das Gedicht Soldati ("Bosco di Courton luglio 1918"), das im ersten Satz der Bratschist zu seinem eigenen Spiel spricht, und zwar im Verlauf unangetastet und damit der noch vorhandenen "Sprachlichkeit der Musik" entsprechend. Der besprochenen gestisch-affektbetonten Verfaßtheit der Musik im ersten Satz kann man die Tatsache zuordnen, daß es sich bei diesem Gedicht um ein Sprach-Bild handelt. "Man ist in einer Lage wie/ im Herbst/ auf den Bäumen/ die Blätter": Ohne den Titel "Soldaten" (der in Schurigs Umsetzung nicht aufscheint) ist dieses Bild nicht völlig verständlich; es ist hier aber auch nicht entscheidend, was für ein Bild das ist (wofür es steht), sondern bloß, daß es eines ist (mit den entsprechenden Auswirkungen auf die musikalische Faktur): come...

Oder - auf die Gefahr hin, sich mit solchen Interpretationen allzusehr zu exponieren und zu weit zu gehen - kann man in dieser Ahnung des Fallenwerdens auch eine Andeutung der Vorgänge sehen, die im weiteren Verlauf des Werkes geschehen werden?

L'infanzia ho sotterato/ Nel fondo delle notti/ E ora, spada invisibile,/ Mi separa da tutto (II.). Und ebendorthin - auf den "Grund der Nächte" - wird man auch zurücksteigen müssen, um die von einem selbst "vergrabene Kindheit" wiederheraufzuholen, die einen "jetzt, als unsichtbares Schwert, von allem trennt": Läßt sich das alles töten und einordnen wollende "gemeinsame Gesten-Gedächtnis von Hörer und Gehörtem" so aufbrechen und verwandeln, daß es alles wieder zugänglich macht: die Ausdruckskraft des reinen Klangs? - Im Hinabsteigen ist da zunächst nur "Verzweiflung, die unaufhörlich wächst": Disperazione che incessante aumenta (II.).

Ma di te, di te più non mi circondano/ Che sogni, barlumi,/ I fuochi senza fuoco del passato (IV.). Auch wenn einen von dem, was man sucht, "nichts als Träume, Schimmer, die Feuer ohne das Feuer des Vergangenen umgeben", so wird doch langsam ahnbar, was es ist ("Aber von dir, von dir..."), wenn man auch weiterhin selbst "schon nichts mehr als das vernichtende Nichts des Gedankens" ist und auf der Suche die allerabstraktesten Methoden gebrauchen muß: Non sono già più/ Che l'annientiante nulla del pensiero (IV.).

Cessate d'uccidere i morti,/ Non gridate più, non gridate/ Se li volete ancora udire,/ Se sperate di non perire (III.). Das Ende (zugleich Ziel) wird immer deutlicher sichtbar, es lassen sich schon Appelle formulieren: "Hört auf, die Toten zu töten,/ Schreit nicht mehr, schreit nicht,/ Wenn ihr sie noch hören wollt,/ Wenn ihr hofft, nicht zugrunde zu gehen". Dies richtet sich gegen die laute Selbstverständlichkeit: "All das legt nahe, daß musikalische Expressivität keine musiksprachliche Erscheinung ist und daher auch nicht durch stupide Perpetuierung vergangenen stilistischen Vokabulars zu erreichen ist, sondern daß es sich dabei um einen grundsätzlichen phänomenologischen Aspekt von Klang überhaupt handelt"*. Diese "Toten" nämlich führen durchaus noch ein sehr subtiles Eigenleben, und um sich ihnen zu nähern,muß man in der Lage sein, das sprichwörtliche Gras wachsen zu hören. "Sie haben das unmerkbare Flüstern,/ Sie machen nicht mehr Geräusch/ Als das Wachsen des Grases,/ Das dort froh ist, wo der Mensch nicht schreitet": Hanno l'impercettibile sussurro,/ Non fanno più rumore/ Del crescere dell'erba,/ lieta dove non passa l'uomo (III.).

Im sechsten Satz werden die hier kursiv gedruckten Bruchstücke aus dem Gedicht Per sempre verarbeitet:

Senza niuna impazienza sognerò
Mi piegherò al lavoro
Che non può mai finire,
E a poco a poco in cima
Alle braccia rinate
Si riapriranno mani soccorrevoli
Nelle cavità loro
Riapparsi gli occhi, ridaranno luce,
E, d'improvviso intatta
Sarai risorta, mi farà da guida
Di nuovo la tua voce,
Per sempre ti rivedo.

... sognerò: Das Stück ist zu Ende, aber das, worum es ihm gegangen ist, beginnt erst recht, wenn auch auf einer anderen Ebene: "... werde ich träumen".

Mi piegherò al lavoro/ che non può mai finire: Was jetzt beginnt, ist ein ständiges Suchen; man hat alles Bekannte verlassen und sich auf diese Suche begeben und kann sie nicht einmal durch Angabe ihres konkreten Zieles (& Endes) festlegen, auch nicht annähernd: "Ich werde mich an die Arbeit machen,/ Die niemals enden kann".

Nelle cavità loro/ Riapparsi gli occhi, ridaranno luce: Dies ist in gewisser Weise ein Bild der Auferstehung (die umso gewisser erwartet wird, je gründlicher das vorangegangene Sterben war): "In ihren Höhlen/ wiedererschienen, werden die Augen wieder Licht geben".

Per sempre ti rivedo: "Für immer sehe ich dich wieder".

Anmerkungen

* W. Schurig, Einführung zum Orgelstück "Blendung/ Lichtsturz" (1990).

In: Programmheft des 20. Forum Feldkirch 1992, S. 25-27.

** Nach einem Gespräch mit dem Komponisten über "Für immer".

Wolfram Schurig

Künstler Raum ProduktionenKlangArten