Mauricio Kagel

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Rede anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden am 16. April 1980 im Plenarsaal des Deutschen Bundesrates, Bonn.

Würde die Lage, in der ich mich augenblicklich befinde, nicht tatsächlich der Wirklichkeit entsprechen, dann wäre ich geneigt, diese Situation als Erfindung zu bezeichnen. Denn, genauso wie man in der Vergangenheit manche real statttgefundene Entwicklung als Produkt Kagelscher Dramaturgie vermutete, könnte man jetzt meinen, ich hätte für mein Hörspiel die Verleihung des Kriegsblindenpreises an diesem ehrwürdigen Ort, dem Plenarsaal des Deutschen Bundesrates, eigens inszeniert. Diesmal aber ist das Alibi durchaus prüfbar; mein organisatorischer Beitrag für das Zustandekommen dieses Aktes ist nicht vorhanden: Die Auszeichnung findet alljährlich bei jedem Wetter hier statt.

Und doch sei mir die Frage gestattet, was eigentlich hier stattfindet? Es heißt: "Der Bund der Kriegsblinden Deutschlands verleiht...den Hörspielpreis...für das bedeutendste deutschsprachige Hörspiel..., das im vergangenen Jahr von einer Rundfunkanstalt der Bundesrepublik Deutschland urgesendet wurde."

Es handelt sich also nicht um gewöhnliche Blinde - wenn man von "gewöhnlichen" in Verbindung mit Verlust des Augenlichts sprechen darf -, sondern um gewordene Blinde; ausschließlich um Menschen, die vom Blitzschlag der Waffen getroffen, dauerhaft in einen geschwächten Zustand versetzt wurden. Hier versammeln sich heute keine Blinden von Geburt aus, sondern nur Verletzte, Tribute jenes Krieges, der an Sinnlosigkeit in der Geschichte der Kriege überhaupt kaum seinesgleichen finden kann. Hier sind wieder die obszönen Beweise des Kampfes versammelt, die Beschädigten jenes Tribuns, der seinen Kampf durch Verblendete ausführen ließ. Aber auch in diesem Punkt unterschied er sich kaum von seinen anderen Kollegen: Wesentlich beim Anheizen der Instinkte im politischen Geschäft scheint zunächst die präzise Weichenstellung zur Entfaltung von Selbstbefriedigungen. Eine solche Mechanik des Trostes wirkt jedoch selten in einer einzigen, kontrollierbaren Richtung. Daraus wird immer heftiger ein diffuses Verlangen nach mehr - bis es schließlich keine Linderung gibt.

Allein deswegen wäre ich dafür, einen orthographischen Eingriff vorzunehmen, gleich einer Akzentverschiebung, um Tribun mit "ie" zu schreiben. Es wäre dann von Trieb, Triebun, Triebune die Rede, eine wie mir scheint angemessenere Veranschaulichung der Zusammenhänge. Also: Der Triebun?

In Argentinien geboren und in Südamerika aufgewachsen, habe ich dort reichlich Gelegenheit gehabt zu lernen, daß die Triebkräfte des politischen Handelns eher erotischer als heroischer Natur sind. Stimme und Aussehen derjenigen, die sich für das Wohlergehen des Volkes zuständig fühlen - aber leider auch über dessen Maßstäbe der geistigen Gesundheit verfügen wollen -, waren, längst bevor das Fernsehen zu einem makellosen Make-up zwang, häufig ebenso wichtig wie politische Argumente. In Europa habe ich übrigens vieles davon wiedererkannt, allerdings in differenzierteren Schattierungen. Das Triebhafte des Metiers ist in diesem Kontinent wankelmutigeren Umwandlungen unterworfen als dort, vielleicht weil hier mehr geplant wird und somit Anpassungen an veränderte Situationen reibungsloser stattfinden können, während die meisten Politiker in Südamerika als solche sich kaum umschulen lassen, nolens volens volens die Berufung ergreifen, zunächst nur für ein Weilchen an die Macht gelangen und des häufigeren länger bleiben. Das zwingt im allgemeinen zu viel starreren, unbeugsameren Positionen. Wenn sich Politiker in diesem Lande - aber sicher sehr selten! - sich gegenseitig der Humorlosigkeit bezichtigen, so wäre dies beispielsweise ein undenkbares Schimpfwort in all jenen südamerikanisachen Ländern, wo das Handwerk des Mordens und Totschlags immer noch als verfassungsfreundlich betrachtet werden kann.

Es ist sicher kein Zufall, wenn zur Tradition der spanisch geschriebenen Literatur die ständige Auseinandersetzung mit Figuren gehört, die den Anspruch auf Alleinherrschaft so charakteristisch verwirklichten, daß aus historisch belegbaren Gestalten sprachliche Muster entstanden. Viele der Unterschiede dieser Bezeichnungen sind prima vista schwer zu erklären. Einige der Vokabeln gab es bereits auf spanisch, andere wurden ins Spanische übersetzt, viele jedoch sind erst als selbständige Dimension anerkannt, nachdem die südamerikanische Variante der Schreckenskunde sie mit Perfektion erfüllte.

Aber es geht nicht um Fragen des Urheberrechts. Ob Señor Presidente oder Diktator, Caudillo oder Despot, Jefe máximo oder Tyrann, Patriarca oder Regierender auf Lebenszeit, hier fließen die Grenzen von Terror und Wahn grenzenlos ineinander und erlauben kaum eine eindeutige Typifizierung. Eigentümlich ist aber die Tatsache, daß in Europa, zumindest jedoch insbesondere in der deutschen Literatur, weniger die verschiedenen Führermodelle der hiesigen Geschichte Hauptthemen des Schreibens waren, als vielmehr Folgen ihres Wirkens und die gesellschaftliche Atmosphäre, die sie ermöglichten und gedeihen ließen. Sozusagen: die historische Figur als Schattenriß und davon nur die Büste.

Jedoch handelt mein Hörspiel weder von südamerikanischen noch von europäischen Archetypen des Tribuns. Zur Einleitung schrieb ich unter anderem: "In diesem Stück wird - durch Analyse - eine Synthese der politischen Rede dargestellt. (Keine Ideologie von extrem links bis äußerst rechts ist vom Verdacht freizuprechen, sie bediene sich nach Bedarf demagogischer, irreführender oder schlicht unwahrer Darlegungen. Frappierend dabei ist der Zusammenhang zwischen Wortschatz und präziser Ungenauigkeit. So werden immer noch Ansprachen gehalten, die bei Änderung der politischen Konstellation eine andere - ebenfalls "glaubwürdige" - Interpretation offenlassen.)"

Und damit sei in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, daß es sich hier nicht um einen bestimmten, bereits verblichenen noch um einen existierenden Staatshäuptling handelt, sondern um den Versuch, die sprachliche Haltung von politischen Rednern im allumfassenden Sinne bloßzustellen. Vorgenommen habe ich mir als Ziel ein möglichst glaubwürdiges Kompositum eher als die Fixierung auf eine zweckdienliche Ideologie und ihre Stellvertreter.

Bei der radiophonischen Verwirklichung des Vorhabems schien es mir auch diesmal wesentlich, eine Übereinstimmung zwischen Arbeitsmethode und akustischer Realisation zu suchen. Von Anbeginn meiner Arbeit als Komponist und Rundfunkautor habe ich stets eine solche Einheit angestrebt. Ich gehöre noch zu einer Generation, die eher im Rundfunk als im Fernsehen den Kulturgefährten sieht. Von beiden fortwährend monologisierenden Spendern ist mir das Radio immer noch instinktiv angenehmer, weil der Informationsfluß aus dem Lautsprecher ohne Bild am besten einen Dialog mit mir selbst zuläßt. Der Rundfunk als Ausdrucksform ist mir sogar in seiner angeblich nicht vorhandenen optischen Dimension vertraut; es ist dies nicht das erste Mal, daß ich als Ausgangspunkt einer spezifischen akustischen Komposition eine visuelle Situation wähle. Bereits "Soundtrack", eine Hörspiel von 1975, hatte zum Thema die Eigendynamik der Gedanken von Familienmitgliedern, die, vor dem laufenden Westernfilm am Fernsehgerät versammelt, mit gleichzeitig vorgetragenen Monologen, die so zu Scheindialogen wurden, ihre Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit allabendlich dokumentierten.

Anders verhält es sich beim "Tribun", aber in der Grundidee ähnelt er ebenso einem fast filmischen Szenario:

"Vom Balkon seiner Residenz übt der erste Mann im Staat eine jener endlos dahinfließenden Reden, die er häufig der versammelten Bevölkerung vorzutragen pflegt. Es ist Nacht. Die Zugänge zum Hauptplatz sind gesperrt; vereinzelte Fahrzeuge sind von weitem hörbar. Zur optimalen Ermunterung des Politikers werden die Reaktionen der nicht vorhandenen, jedoch weich dressierten Zuhörer vom Tonband über Lautsprecher eingespielt. Es handelt sich hier meist um zwei stereotype Äußerungen: "Ja" oder "Nein". Andere Worte, die zum Standardvokabular von Massenveranstaltungen gehören, werden ebenfalls mechanisch wiederholt. Auch der heftige Applaus und manchmal auch die Stimme des Tribuns werden eingespielt. (Klangfarbe und Tempo des Klatschens werden in jenem Land seit langem durch einen Computer synthetisch hergestellt. Wissenschaftler entdeckten, daß ein akurates Klatschen die Wirkung bestimmter Nahrungsmittel haben kann. Das Volk braucht also nicht mehr zu klatschen. Eine wohldosierte akustische Nahrung ersetzt tatsächlich manche physischen Genüsse.) In einer Ecke des Platzes steht die beste Militärkapelle des Landes parat. Die Musiker jedoch dürfen ihre Instrumente nicht bedienen: Über Lautsprecher werden die Märsche eingespielt, die bei Bedarf gestoppt werden, um dann an den gewünschten Stellen wieder zu starten."

Südamerika? Asien? Afrika? Europa?

Die schwer zu umgehende Selbstpflicht des Politikers, über vieles sprechen zu müssen, was er kaum beherrschen kann, ist in der Regel an einen Katalog vorgefertigter Stellungnahmen gekoppelt , die das Gerüst seiner ideologischen Weltanschauung darstellt. Heute über die Beseitigung von Atommüll zu sprechen, gestern über die Herstellung von Radiergummis, morgen über Magnolienzucht; der Vielfalt der Themen ist anscheinend keine Grenze gesetzt. Es ist dies sicher ein diskreditierter, komplizierter Vorgang sowohl in der Demokratie wie im Totalitarismus, der viele verschiedene Interpretationen zuläßt. Einerseits wird vom Politiker Auskunft erwartet, und zwar beständig und möglichst zutreffend - ähnlich der täglichen Wettervorhersage - andererseits ist er selbst von Auskünften abhängig, die er nur schwer kontrollieren kann. aber ihm bleibt immer noch das Heilmittel jener - fast selbständig sich reproduzierenden - Rhetorik der politischen Rede, die vieles erlaubt, weil auf der Stelle, aber bedeutungsvoll, getreten werden kann.

Bei den jahrelangen Recherchen und dem Sammeln des Materials für den "Tribun" wurde mir nun klar, daß eine Mischform von genau Formuliertem und spontan Extemporiertem angepeilt werden sollte.

Die Gedanken des Redners notierte ich auf ca. 500 Karteikarten und zwar zunächst stichwortartig. Einige Beispiele:

Wollen und Können / Kampfritual

Meine Botschaft / Das Volk irrt nie

Ich bin euer Adler / Spekulationen

Der äußere Feind / Der Staat bin ich

Brot und Granit / Frauen und Kinder

Macht und machen lassen / Arbeiter

Ich sprach bereits von der Einheit zwischen Arbeitsmethode und akustischer Realisation, welche mir stets vorschwebt. Um zu dieser Übereinstimmung zu gelangen und dazu einiges über Entstehung von Demagogie zu erfahren, übernahm ich selbst die Rolle des Tribuns. Ich schloß mich, mehrere Sitzungen hintereinander, mit meinen Karteikarten in einen Aufnahmeraum ein und begann bis sieben Stunden täglich, wie es so schön heißt, über Gott und die Welt (also: über alles und nichts Bestimmtes) zu sprechen. Meine Situation im Studio wurde ganz ähnlich jener Situation meines Hörspiels. Im Verlauf dieses psychodramatischen Redeflusses zog ich, genauso wie unzählige Politiker jeglicher Couleur vor mir und sicherlich noch viele danach, alle Register zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen. Nach diesem charakteristischen Rezept sind überlange politische Botschaften am ehesten zu bewältigen.

Ich log, schmeichelt und wiederholte mich, schrie, lachte und zeigt eine dicke Haut gegen Angriffe, warnte, war grob und unbeherrscht, akzeptierte mein Schicksal - das erst recht mein Volk nicht zu teilen hatte, verlangte, mahnte und vergaß nicht, mit langsam tremolierender Stimme sentimental zu werden, verteilte Ohrfeigen und war stets mannhaft genug, um der besseren Zukunft wegen vorwärts zu marschieren, erinnerte an die vergangenen Opfer und wußte schon neue zu nennen, kündigte Niederlagen und verschärfte Kontrollen an, stellte die Niedertracht unserer traditionellen Feinde bloß, wies auf die aufkommenden Gefahren neuer Gegner hin und war bereit, sogar Selbstkritik zu üben, vorausgesetzt, daß alle anderen, die auch Fehler gemacht hatten, Ähnliches täten.

Eine erfundene oder eine wiederhergestellte Fiktion?

Nach diesem Nachwort zur Entstehung meines Hörspiels, das zugleich einem Zugeständnis ähnelt, überlasse ich Ihnen, die Wahrnehmung des Stückes vielleicht unter anderen Gesichtspunkten einzuordnen. Ich nehme meinerseits den "Hörspielpreis der Kriegsblinden" für 1979, auch als eine Auszeichnung für das Neue Hörspiel als Richtung, entgegen, das sich zunächst vom traditionellen Hörspiel dadurch unterscheidet, daß Tonband und Schere, neben Bleistift und Papier, gleichberechtigt sind. Gerade dies ermöglich mir, meine Identität zu wahren und weiter noch, ein Komponist-als-Hörspielmacher zu sein. Diese Tätigkeit wäre allerdings ohne die kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Hörspielabteilung des Westdeutschen Rundsfunks nicht denkbar.

Zumindest in einem Punkt bin ich, gegenüber meinen Vorläufern an diesem Platz, den Schriftstellern, im Vorteil: Ich durfte mir die Musik wünschen, die heute hier gehört werden soll. Daß ich einige Märsche aus dem "Tribun" wählte. lag auf der Hand. Die Sammlung aller Musikstücke, die ich für dieses Hörspiel schrieb, werde ich, herausgelöst aus dem Kontext, aufführen lassen. Nur der Titel des Ganzen wird sich geringfügig ändern: 10 Märsche um den Sieg zu verfehlen.

© Mauricio Kagel Köln 1982.

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