Abstrakte Reise (1999/2000)









für Sopran, Streichquartett, Schlaginstrumente und Tape

I. DUNKELHEIT (Conrad)
1. Schnittpunkt


II. WUNDER (Marco Polo)
2. Schnittpunkt


III. TAGE (Yang Lian)
3. Schnittpunkt


IV. WEG (Laozi)

Text vom Komponisten, zusammengestellt aus folgenden Quellen:

- Joseph Conrad: Heart of Darkness / Herz der Finsternis (Englisch / Deutsch)
- Marco Polo: Il Milione / "Die Wunder der Welt" (Altfranzösisch / Deutsch)
- Yang Lian: Chouxiang de youji / Abstrakte Reisebeschreibung (Chinesisch / Deutsch)
- Laozi: Daodejing (Altchinesisch)

UA. Hannover, Expo 2000
NDR-Funkhaus, 16. Juni 2000, 20 h

Anna Maria Pammer, Sopran
Arditti String Quartet
Irvine Arditti, Violine, Regenstab
Graeme Jennings, Violine, Qing (Tempelglocke)
Dov Scheindlin, Viola, Kalimba
Rohan de Saram, Violoncello, Xiaoluo (Kleiner Peking-Opern-Gong)

Rainer Stelzig, Sprecher (Tape)
Christian Utz, Klangregie

Abstrakte Reise ist mein bisher fünfter Versuch, mich kompositorisch im Spannungsfeld von westlicher und ostasiatischer Kultur zu bewegen. Ich versuche dabei, die Möglichkeiten und Grenzen dieses Spannungsfeldes auszuloten, indem ich verwickelte Querbezüge zwischen kulturell definierten Musikformen, Sprachen, Traditionen, Strukturen und Aufführungspraxis aufbaue, mit der Absicht, dieses dichte Bezugsnetz in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und Komplexität wirken zu lassen.

Die verwendeten Texte von Joseph Conrad, Marco Polo und Yang Lian sind drei sehr unterschiedliche "Reisebeschreibungen". An diesen interessieren mich vor allem zwei Aspekte: das Prinzip der unweigerlichen Verfälschung ("Alle Reisenden sind Lügner") und die Parallele von physischer und spiritueller Reise (eine kritische Sicht auf sogenannte "Reisen nach Innen").

Zwei Hauptstrukturen durchziehen die gesamte Komposition: das chinesische Melodiemodell Da ba ban (Die großen acht Schläge) und die chinesischen Sprechtöne einer Passage aus Laozis Daodejing (Kapitel 41). Letztere bilden das Modell für Instrumentation und Instrumentallagen, während der gesamte Tonhöhenverlauf auf die Da ba ban-Melodie zurückgeht. Die vier Teile unterscheiden sich durch Tempo und Metrum und basieren auf Basismodellen chinesischer Musikpraxis: yuanban (I), liushui (II), erliu (III) und manban (IV).

Diese Bezüge versuchen dennoch in keiner Weise sich mit "authentischer" chinesischer Musik zu identifizieren, sondern deuten vielmehr auf einen krassen Gegensatz zwischen traditioneller Musik-Praxis und der hier verfolgten hochstilisierten Konzeption. Zudem bezieht sich die Komposition auch auf die Tatsache, dass traditionelle Musik in China heute in den meisten Fällen unterschiedliche Grade von "Verfälschung" aufweist, oft bedingt durch eine Anpassung an westliche musikalische Systeme.

Die Idee der "Fälschung", bzw. der Schwierigkeit, ein "Original" absolut zu definieren, findet sich in dieser Abstrakten Reise noch auf zahlreichen weiteren Ebenen. Die stark fragmentierte Verwendung der Originaltexte in den Teilen I-III und die teils absurd werdende Vermischung der deutschen Übersetzungen in den drei dazwischenliegenden Schnittpunkten "verfälscht" die Originale ebenso wie diese die "Realität" "verfälschen". Die "falsche" Verwendung von Regenstab, Kalimba, Peking-Opern-Gong und Klangschale in den Schnittpunkten verweist wie die Texte auf unterschiedliche kulturelle Traditionen und hebt deren Differenz und Eigenständigkeit hervor. Schließlich finden sich "Fälschungen" in einer Vielzahl von musikalischen Zitaten im II. Teil (u.a.von Schönberg, Berg, Bartók, Boulez, Ferneyhough, Tan, Suppan), die mit Besetzung, historischen und interkulturellen Querbezügen und Autobiografie in Verbindung stehen.

Laozis Text im IV.Teil ist auch als selbstkritischer Moment aufgefasst, der die Motivation bildet, das in den vorangehenden Teilen aufgebaute dichte Bezugsnetz zu verlassen und zu einem extrem schlichten und kontemplativen Klangband zurückzufinden. Die zentrale Stelle des Textes lautet (in einer von vielen möglichen Übersetzungen) "Große Musik hat wenig Klang".