für Sopran, Streichquartett, Schlaginstrumente und
Tape
I. DUNKELHEIT (Conrad)
1. Schnittpunkt
II. WUNDER (Marco Polo)
2. Schnittpunkt
III. TAGE (Yang Lian)
3. Schnittpunkt
IV. WEG (Laozi)
Text vom Komponisten, zusammengestellt aus folgenden Quellen:
- Joseph Conrad: Heart of Darkness / Herz der Finsternis (Englisch /
Deutsch)
- Marco Polo: Il Milione / "Die Wunder der Welt" (Altfranzösisch
/ Deutsch)
- Yang Lian: Chouxiang de youji / Abstrakte Reisebeschreibung (Chinesisch
/ Deutsch)
- Laozi: Daodejing (Altchinesisch)
UA. Hannover, Expo 2000
NDR-Funkhaus, 16. Juni 2000, 20 h
Anna Maria Pammer, Sopran
Arditti String Quartet
Irvine Arditti, Violine, Regenstab
Graeme Jennings, Violine, Qing (Tempelglocke)
Dov Scheindlin, Viola, Kalimba
Rohan de Saram, Violoncello, Xiaoluo (Kleiner Peking-Opern-Gong)
Rainer Stelzig, Sprecher (Tape)
Christian Utz, Klangregie
Abstrakte Reise ist mein bisher fünfter Versuch, mich kompositorisch
im Spannungsfeld von westlicher und ostasiatischer Kultur zu bewegen.
Ich versuche dabei, die Möglichkeiten und Grenzen dieses Spannungsfeldes
auszuloten, indem ich verwickelte Querbezüge zwischen kulturell definierten
Musikformen, Sprachen, Traditionen, Strukturen und Aufführungspraxis
aufbaue, mit der Absicht, dieses dichte Bezugsnetz in seiner ganzen Widersprüchlichkeit
und Komplexität wirken zu lassen.
Die verwendeten Texte von Joseph Conrad, Marco Polo und Yang Lian sind
drei sehr unterschiedliche "Reisebeschreibungen". An diesen
interessieren mich vor allem zwei Aspekte: das Prinzip der unweigerlichen
Verfälschung ("Alle Reisenden sind Lügner") und die
Parallele von physischer und spiritueller Reise (eine kritische Sicht
auf sogenannte "Reisen nach Innen").
Zwei Hauptstrukturen durchziehen die gesamte Komposition: das chinesische
Melodiemodell Da ba ban (Die großen acht Schläge) und die chinesischen
Sprechtöne einer Passage aus Laozis Daodejing (Kapitel 41). Letztere
bilden das Modell für Instrumentation und Instrumentallagen, während
der gesamte Tonhöhenverlauf auf die Da ba ban-Melodie zurückgeht.
Die vier Teile unterscheiden sich durch Tempo und Metrum und basieren
auf Basismodellen chinesischer Musikpraxis: yuanban (I), liushui (II),
erliu (III) und manban (IV).
Diese Bezüge versuchen dennoch in keiner Weise sich mit "authentischer"
chinesischer Musik zu identifizieren, sondern deuten vielmehr auf einen
krassen Gegensatz zwischen traditioneller Musik-Praxis und der hier verfolgten
hochstilisierten Konzeption. Zudem bezieht sich die Komposition auch auf
die Tatsache, dass traditionelle Musik in China heute in den meisten Fällen
unterschiedliche Grade von "Verfälschung" aufweist, oft
bedingt durch eine Anpassung an westliche musikalische Systeme.
Die Idee der "Fälschung", bzw. der Schwierigkeit, ein
"Original" absolut zu definieren, findet sich in dieser Abstrakten
Reise noch auf zahlreichen weiteren Ebenen. Die stark fragmentierte Verwendung
der Originaltexte in den Teilen I-III und die teils absurd werdende Vermischung
der deutschen Übersetzungen in den drei dazwischenliegenden Schnittpunkten
"verfälscht" die Originale ebenso wie diese die "Realität"
"verfälschen". Die "falsche" Verwendung von Regenstab,
Kalimba, Peking-Opern-Gong und Klangschale in den Schnittpunkten verweist
wie die Texte auf unterschiedliche kulturelle Traditionen und hebt deren
Differenz und Eigenständigkeit hervor. Schließlich finden sich
"Fälschungen" in einer Vielzahl von musikalischen Zitaten
im II. Teil (u.a.von Schönberg, Berg, Bartók, Boulez, Ferneyhough,
Tan, Suppan), die mit Besetzung, historischen und interkulturellen Querbezügen
und Autobiografie in Verbindung stehen.
Laozis Text im IV.Teil ist auch als selbstkritischer Moment aufgefasst,
der die Motivation bildet, das in den vorangehenden Teilen aufgebaute
dichte Bezugsnetz zu verlassen und zu einem extrem schlichten und kontemplativen
Klangband zurückzufinden. Die zentrale Stelle des Textes lautet (in
einer von vielen möglichen Übersetzungen) "Große
Musik hat wenig Klang". |